Chagall in Attendorn

Ein Chagall-Bild in einer Ausstellung.
(Foto: Artwork Hövelmann, Attendorn)

Noch bis zum 16. Februar 2020 ist die Ausstellung "Dreigestirn der Moderne" im Südsauerlandmuseum in Attendorn zu bewundern. Ausgestellt sind auch einige Werke von Marc Chagall.

 

 Chagall entstammte einer jüdischen Familie aus Witebsk im heutigen Weißrussland.

 

Das Milieu des heimischen Schtetl mit seinen Protagonisten, die Welt der jüdischen Riten und Bräuche wird für Chagall ein unermessliches, immer wieder zu variierendes Motivreservoir, aus dem er zeitlebens schöpfen sollte.

 

"Der geerdete Fantast"

Mit Genehmigung des Südsauerlandmuseums Attendorn dürfen wir den im Ausstellungskatalog veröffentlichten Text "Marc Chagall – der geerdete Fantast" von Prof. Dr. Markus Müller, Direktor Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, veröffentlichen:

 

„Marc Chagall ist unangefochten der große Farbmagier in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Dieses Kompliment gab ihm sogar Pablo Picasso, der nicht gerade für sein inflationäres Komplimentieren von Künstlerkollegen bekannt war.

 

Chagall entstammte einer jüdischen Familie aus Witebsk im heutigen Weißrussland. Früh schon drängte es den jungen Künstler vor dem Ersten Weltkrieg nach Paris, als damalige Welthauptstadt der Künste und internationaler Schmelztiegel der Avantgarde. Im Transit zwischen Ost und West wurde Chagall heimisch. Die Bild- und Motivwelt seiner russischen Heimat aber trug er überall mit sich. So hat der Künstler einmal ausgeführt: „Das Land, das die Wurzeln meiner Kunst genährt hat, war Witebsk, aber meine Kunst braucht Paris, wie ein Baum Wasser braucht.“

 

Das Milieu des heimischen Schtetl mit seinen Protagonisten, die Welt der jüdischen Riten und Bräuche wird für Chagall ein unermessliches, immer wieder zu variierendes Motivreservoir, aus dem er zeitlebens schöpfen sollte. Reales und Magisches durchmischen sich in der Bildwelt Chagalls, führen eine unbekümmerte Koexistenz. Im Hinblick auf seine charakteristische Bildmagie war Picasso schon weitaus weniger galant gegenüber dem Künstlerkollegen, wobei er ausführte, er möge die zahllosen fliegenden Kühe auf dessen Bildern überhaupt nicht.

 

Allzu einfach erscheinen Deutungsmuster, die in kulturelle Stereotypen verfallen und in Chagalls Welt des Poetisch-Übernatürlichen die vermeintlich jüdische Seele suchen und auch finden. Chagalls Äußerungen zu seinem jüdischen Glauben sind ambivalent. Zum einen hat er bekannt, dass wenn er kein Jude gewesen wäre, er kein oder ein ganz anderer Künstler geworden wäre. Auf der anderen Seite räumte er ein, kein wirklich orthodoxer, tief gläubiger Jude gewesen zu sein.

 

Was Chagall anstrebte, war ein universeller, die Konfessionen übersteigender künstlerischer Anspruch. So wählt er auch äußerst unorthodox und nur individuellen Vorlieben folgend die Themen des Alten Testaments aus. Chagall sucht das Weltliche im Religiösen und findet im vordergründig Profanen religiöse Tiefendimensionen. „Die Bibel ist für mich reine Poesie, eine menschliche Tragödie“ hat er einmal ausgeführt. In bildfüllender, suggestiver Nahsicht hat er Moses und die Gesetzestafeln dargestellt.

 

Der alttestamentarische Patriarch legt die Hände auf die beschriebenen Tafeln, um im wahrsten Wortsinn den Text zu begreifen. In der feinen Modulation der Tonwerte ist die Grafik ein Meisterwerk der Lithografie. Mit dem Schaber hat Chagall aus dem dunklen Bildgrund einzelne Locken am Moseshaupt hervorgehoben, der seit dem Mittelalter in der Regel als bärtiger Mann mit wallendem Haupthaar dargestellt wird.

 

Auf mittelalterliche Traditionen geht auch das Motiv der Hörner des Moses zurück, denn in der lateinischen Vulgata-Übersetzung des Urtextes heißt es in Exodus 32, 29: Videbant faciem Moysi esse cornutam. Gemeint ist wohl eher ein „Strahlen“ oder „Leuchten“, das auf dem Haupt des Patriarchen nach dem Abstieg vom Berge Horeb auszumachen war. Seit dem 12. Jahrhundert wird aufgrund dieser ambivalenten Übersetzung Moses in der christlichen Darstellungstradition als gehörnt repräsentiert.

 

Chagall erweist sich in seiner Moses-Grafik als Mittler zwischen jüdischer Textexegese und christlicher Darstellungstradition. So sind es leuchtende Hörner von unbestimmter Länge, die das Haupt des Moses im vorliegenden Fall schmücken. Mit Frau und Tochter musste Chagall, der in Frankreich heimisch geworden war, vor den Nazis nach Amerika fliehen. Als der Künstler nach dem Krieg nach Frankreich zurückkehrte, mutete ihm nach eigenem Bekunden die Wiederentdeckung dieses Landes wie eine Offenbarung an. In einer Paris gewidmeten Bildserie verwob er reale Topographie mit fantastischem Gestaltinventar. So bevölkern auf einer Lithographie aus dem Jahre 1952 Mutter und Kind den Vorplatz der berühmten Kathedrale Notre-Dame.

 

Die unbekümmerte Nacktheit der Muttergestalt nährt Zweifel, es könne sich hier um eine Darstellung der Madonna mit dem Kind handeln. Durch den Tierkopf am unteren rechten Bildrand wiederum wird bewusst das Gestaltinventar von Geburtsdarstellungen Christi heraufbeschworen. So bleibt der Bedeutungsgehalt der Grafik in unbestimmter Schwebe.

 

Ein Chagall-Werk in einer Ausstellung.
(Foto: Artwork Hövelmann Attendorn)

Die Gesetzte der Schwerkraft sind auf der Lithographie Fest im Dorfe augenscheinlich aufgehoben. Es herrscht kreatürliche Ausgelassenheit, wobei ein Hahn und eine Kuh vor zart angedeuteter, russischer Dorfkulisse ausgelassene Pirouetten vollführen. Picasso hätte dieses Werk wohl kaum goutiert, zeigt es doch einmal mehr eine fliegende Kuh!

 

Mit den niedrigen Holzhütten im Hintergrund beschwört Chagall motivisch das heimatliche Witebsk hervor, doch dieser Ort ist ein exemplarischer, ein universeller Ort, eine Chiffre für die Heimat schlechthin.

 

Ein Chagall-Werk in einer Ausstellung.
(Foto: Artwork Hövelmann Attendorn)

Auch auf der wundervoll zart kolorierten Grafik Die Dächer wird vom Künstler die unverwechselbare Silhouette seines Heimatortes motivisch festgehalten. In einer Demutsgeste beugt sich der mit der Palette als Künstler Charakterisierte vor dieser vertrauten Szenerie. Chagall stellt seine Heimat dar und ist doch auch bildlich integraler Bestandteil von ihr.

 

Chagall wurde als der große Bilddichter und Erzpoet der klassischen Moderne beschrieben. Angesichts seiner scheinbar unerschöpflichen Bildfantasie verlieh man ihm auch den Beinamen des „jüdischen Picasso.“ Das Etikett des „Erzpoeten“ hat Chagall nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Tatsache verdient, dass er nicht nur fantastische Geschichten mit dem Malpinsel schrieb, sondern auch Gedichte verfasste.

 

So sind die Verse aus seiner Feder nicht minder poetisch als seine Bilder. Beim Schweizer Verleger Gerald Cramer erschien 1968 eine Sammlung seiner Gedichte mit farbig reich orchestrierten Grafiken. Chagall inszenierte hier – wie so häufig – ein beziehungsreiches Spiel mit verschiedenen Realitätsebenen. In einem der Holzschnitte stellte er eine nackte, offensichtlich mit Brautschleier versehene Frau dar, und schmiegt sich als ihr künstlerischer Schöpfer dicht an das Geschöpf seiner Bildfantasie.

 

Das Thema, das der Künstler sich in die Kreatur seiner Bildfantasie verliebt, ist fast so alt wie die abendländische Kunst selbst. So handelt der antike Pygmalion-Mythos von einem Bildhauer, der eine weibliche Statue durch Kuss zum Leben erweckt. Schon der große italienische Renaissance-Künstler Leonardo da Vinci führte in seinen theoretischen Schriften aus: „Will der Maler Schönheiten erblicken, die ihn zur Liebe bewegen, so ist er Herr darüber, sie ins Dasein zu rufen.“

 

Ein Chagall-Werk in einer Ausstellung.
(Foto: Artwork Hövelmann Attendorn)

Chagalls Kunst wäre eine Kunst des Eskapismus, eine bildnerische Strategie vordergründiger Weltflucht, wenn sie nicht fundamental geerdet wäre. Betrachtet man Werke wie den Farbholzschnitt zu dem Gedicht Auf Erden…, so wird dieser Aspekt seiner Kunst sinnfällig. Hier ist im Bildvordergrund ein innig verschmolzenes Liebespaar dargestellt, wobei das Profil der männlichen Figur an den Künstler selbst mit seinen lockigen Haaren denken lässt. Er hat seiner Geliebten im wahrsten Wortsinn „den Kopf verdreht“ und so blickt der entrückte und verdrehte Frauenkopf himmelwärts in unbestimmte Gefilde.

 

Der Blick des Mannes jedoch fällt auf den wandernden Juden, dessen langer grauer Mantel den gelben Davidstern aufweist. Auf einen Stock gestützt wandert der bärtige Jude davon in unbestimmte Weiten außerhalb der Bildfläche. Die intime Zweisamkeit des Paares lässt in bildlicher Opposition gerade diesen fliehenden Juden in seiner ganzen Einsamkeit und Isolation aufscheinen. „Man spreche also nicht mehr, was mich betrifft, von Zaubermärchen, von dem Fantastischen, von Chagall, dem fliegenden Künstler“ hat er einmal ausgeführt. In Werken wie diesen löst er diesen künstlerischen Anspruch ein.“

 

(Prof. Dr. Markus Müller)

Direktor Kunstmuseum Pablo Picasso Münster

 

Quelle:

Katalog anlässlich der Ausstellung „Picasso, Chagal, Miró – Dreigestirn der Moderne“ im Südsauerlandmuseum Attendorn, 18.11.2019 – 16.02.2020)

 

Anmerkung:

Die fettgedruckten (und weitere) Werke sind im Südsauerlandmuseum ausgestellt.

 

Infos zur Ausstellung

Den Infofolder zur Ausstellung können Sie sich hier herunterladen:

Download
"Picasso-Chagall-Miró: Dreigestirn der Moderne"
Infofolder zur Ausstellung im Südsauerlandmuseum vom 18.11.2019 bis 16.02.2020
SSM_Folder_Picasso_11-2019.pdf
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Danke

 Sponsor und Initiator dieser hochwertigen Ausstellung ist die Sparkasse Attendorn-Lennestadt-Kirchhundem.

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