"Das verstehst du nicht!" - Eine Kindheit in Attendorn

Luftbildaufnahme von Attendorn aus dem Jahr 1937.
Attendorn im Jahr 1937. (Fotoquelle: Stadtarchiv Attendorn)

 

Der gebürtige Attendorner Wilhelm Schray (Jahrgang 1933, zum Lebenslauf geht es HIER), der heute in Lüneburg lebt, hat seine persönlichen Kindheitserinnerungen in Attendorn während der NS-Zeit zu Papier gebracht:

 

1938

Gefahr hing in der Luft

Meinen Opa sah ich zum letzten Mal lebend, als er und Oma uns in Attendorn besuchten. Sie waren Mutters Eltern. Meine Eltern und die Großeltern saßen um den Küchentisch herum und redeten aufgeregt. Ich spielte auf dem Fußboden und verstand nichts von allem. Oft schickten sie mich ins Kinderzimmer. (1)

 

Bald, nachdem die Großeltern abgereist waren, trug mein Vater an der Jacke ein rundes Abzeichen, wie auf der Fahne, die oft vor unserem Haus an der Stange hing. Viele andere Männer hatten das gleiche Abzeichen. Das Zeichen darin nannten sie Hakenkreuz. Ich fragte nicht, wofür das gut war.

 

Ein paar Wochen später sah ich meinen Opa wieder, im Sarg. Sie erzählten, die Malaria hätte ihn umgebracht. Ich wusste nicht, was das war. (2)

 

An einem Sommertag wanderte ich mit meinen Eltern von Attendorn nach Bilstein. Unterwegs redeten sie viel von Sudeten und einem Land, das Tschechoslowakei hieß. Es fiel das Wort Krieg, Gefahr hing in der Luft. Wenn ich fragte, um besser zu verstehen, war die Antwort: „Davon verstehst du nichts.” Also ging ich still neben meinen Eltern her. In meinem Kopf schwirrte wie eine Fliege der seltsame Name des Landes. 

 

Zerschlagene Scheiben in der Wasserstraße

Die Novemberpogrome 1938 in der Wasserstraße in Attendorn
(Fotoquelle: Stadtarchiv Attendorn)

An einem anderen Tag ging ich Hand in Hand mit meinen Eltern durch die Stadt. In der Wasserstraße an den Kaufhäusern Cohn und Lenneberg waren die Scheiben zerschlagen und Gegenstände aus den Schaufenstern auf das Pflaster geworfen worden. Hinter dem Kaufhaus Cohn lag vor einem Haus Gerümpel auf der Straße, zum ersten Mal hörte ich das Wort Synagoge. Das sei die Kirche der Juden, sagten meine Eltern.

 

Mützen in einem Baum
(Fotoquelle: Stadtarchiv Attendorn aus dem Nachlass von Bruno Reuber)

An der Kölner Straße hatten Leute Möbel aus den Fenstern zweier Häuser geworfen. In den Zweigen eines Baumes hingen bunte Mützen. Ich fragte, was das für Mützen seien. Solche Mützen trügen die Studenten, wurde mir gesagt. Ich wusste nicht, was Studenten sind.

 

Viele Leute gingen vorbei und schauten sich das Geschehen an. In meiner Erinnerung ist es wie ein Schauspiel ohne Darsteller, nur mit Zuschauern. Die Erwachsenen redeten viel von Juden, ich wusste nicht, was das Besondere an ihnen war. Niemand erklärte mir, warum man ihre Sachen aus den Fenstern geworfen hatte. Die geplünderten Läden bekamen neue Namen, ich habe sie vergessen.

 

Meine Eltern hörten oft Radio, viel Musik, laute Reden und das, was sie Nachrichten nannten. Ich musste dann still sein. Den Mann, nach dem unsere Straße benannt war, erkannte ich bald an der Stimme. Er hieß Hitler und wurde Führer genannt. Wenn sich Menschen begegneten, hoben sie die rechte Hand und riefen Heil Hitler. Mein Vater nahm  danach mit der gleichen Hand auch noch den Hut ab.

 

1939

Es gab Krieg

Meine Eltern kauften ein Grundstück, auf dem sie ein Haus bauen wollten, wenn sie genug Geld gespart hätten. Weil das Grundstück sehr groß war, wurde der größte Teil an vier Familien weiter verpachtet, die so wie wir einen Garten anlegten. Mein Vater pflanzte Bäume und Beerensträucher. Aus einem verlassenen Garten auf der anderen Seite der Stadt kaufte er ein kleines Gartenhaus. Der Spediteur Viegener transportierte es auf einem Flachwagen quer durch die Stadt. Ich durfte auf dem Anhänger mitfahren. (3)

 

Es gab Krieg, Deutschland gegen Polen. Ich wusste, dass es 1914 auch einen Krieg gegeben hatte, sie nannten ihn Weltkrieg, die Deutschen hatten verloren. Bei den Großeltern Schray hing an der Wand ein Bild, das fast so groß war wie ich: „Das ist Wilhelm, dein Onkel, er ist im Weltkrieg gefallen.” Warum sagten sie gefallen, wenn sie gestorben meinten? Ich fragte nicht laut.

 

Den Krieg gegen Polen gewann Deutschland. Ich erfuhr aus dem Radio, dass die Polen, bevor die deutschen Soldaten einmarschiert waren, viele Deutsche ermordet hatten. Solche Deutsche nannte man Volksdeutsche, und die, die überlebt hatten, wurden heim ins Großdeutsche Reich geholt.

 

1940

„Das erfährst du, wenn du groß bist!”

Wochenlang standen Lastwagen und Kanonen getarnt unter den alten Linden auf dem Wall rund um die Stadt. Immer wieder strich ich zwischen den Fahrzeugen herum. Zum ersten Mal roch ich die Auspuffgase von Dieselmotoren. Oft lagen neben den Autos und hinter den dicken Linden helle, faltige Gummis, ähnlich schlappen Ballons. „Nimm sowas bloß nicht in die Finger!”, wurde ich gewarnt. „Warum nicht”? „Das erfährst du, wenn du groß bist!”

 

Die Soldaten wurden in Familien einquartiert. Bei uns wohnte der Karl aus Dinkelsbühl, er mogelte beim Mensch-ärgere-dich-nicht. Als die Kolonnen Attendorn verließen, begann der Krieg in Frankreich. Karl schrieb uns ab und zu.

 

In diesem Jahr kam ich in die Schule und lernte schnell lesen, bald auch die Zeitung. Darin gab es jeden Tag einen Wehrmachtsbericht, der genau meldete, wie viele feindliche Flugzeuge die deutschen Jagdflieger abgeschossen und wie viele Tausend Bruttoregistertonnen die U-Boote versenkt hatten. Aus dem Radio kamen Meldungen über Bomben auf englische Städte. Deutsche Soldaten siegten und siegten. Ich hörte immer öfter das Wort „Heldentod”. 

 

Heimlich auf den Judenfriedhof

Der Jüdische Friedhof in Attendorn
(Fotoquelle: Stadtarchiv Attendorn)

Ich wusste jetzt, dass man die meisten Juden verjagt hatte, weil sie unser Verderben waren. Das hatten Hitler und Goebbels in ihren Reden gesagt, und auch die Nachrichten sprachen darüber. Meine Oma war anderer Meinung und sagte immer wieder, dass der Jud´ Franck ein guter Mensch gewesen sei. „Er hat viel für die armen Leute getan”, sagte sie. Ein paar Juden gab es noch in der Stadt, sie mussten einen gelben Stern an der Kleidung tragen.

 

Am Abhang des Glockenbergs lag auf drei Terrassen zwischen hohen Mauern und dichten Hecken der Judenfriedhof. Sein Eingangstor war mit einer Eisenkette verschlossen. Es gab am Berg hoch einen steilen Fußpfad. Von dort kroch ich durch ein Loch in der Hecke auf den Friedhof und kam mir vor wie ein Eroberer. Ich ging zwischen den Gräbern herum, las die Inschriften auf den Grabsteinen und rechnete das Alter der Verstorbenen aus, doch auf den meisten Steinen stand eine unbekannte Schrift. Niemand sonst war da. Bei anderen Friedhöfen lagen Blumen auf den Gräbern. Hier lag keine einzige Blüte.

 

Im Herbst krochen auch meine Freunde mit mir auf den Friedhof. Von der Kante der untersten Mauer konnten wir die Äste der Obstbäume in der Gärtnerei Hielscher erreichen und stopften uns die Taschen voll mit Eierpflaumen.

 

1941

Kriegsbücherei der deutschen Jugend

Cover des Heftes Bomben auf Coventry

„Es könnte ihm ergehen wie Napoleon”, sagte mein Vater, als Hitler die deutschen Soldaten auch nach Russland schickte. Ich wusste, was Vater meinte, denn mein Patenonkel hatte mir ein Album mit Zigarettenbildern geschenkt: Ruhmesblätter Deutscher Geschichte. Darin gab es ein Bild Napoleon vor dem brennenden Moskau. Es war der Anfang von Napoleons Untergang.

 

Viel Neues erfuhr ich aus den Kriegsheftchen, genau hießen sie Kriegsbücherei der deutschen Jugend. Wir sammelten und tauschten sie. Eines der ersten hieß Bomben auf Coventry. In den Heftchen wurden alle Siege beschrieben, fast immer starben die Feinde. Ich begann mich zu wundern, denn auf den letzten Seiten unserer Zeitung Rote Erde standen in langen Reihen Anzeigen von Gefallenen für Führer, Volk und Vaterland.

Im Sommer fuhr mein Vater wegen seiner Herzkrankheit für vier Wochen zu einer Kur nach Bad Nauheim. Mutter und ich besuchten ihn von Gießen aus, wo wir ein paar Tage bei unseren Verwandten wohnten. Auf der Rückfahrt von dort machten wir Halt bei den Großeltern in Weidenau. In der Nacht gab es große Aufregung im Haus, am anderen Morgen sagte mir Tante Emmi, Mutter sei im Krankenhaus. Ich durfte nicht zu ihr, abends gingen wir auf den Hügel hinter dem Krankenhaus und winkten zu Mutter hinüber. Nach ein paar Tagen war sie wieder da und wir fuhren nach Hause. Ich habe nie gefragt, was gewesen war, und sie hat zu mir nie etwas darüber gesagt. (4) 

 

Aus der Sonnenschule wurde die Leo-Schlageter-Schule

Historische Aufnahme der Sonnenschule in Attendorn
(Fotoquelle: Heinz Schneider im Stadtarchiv Attendorn)

Nach den Sommerferien kamen wir in die Sonnenschule. Eigentlich hieß sie Leo-Schlageter-Schule. Schlageter war erschossen worden, weil er Züge entgleisen ließ, mit denen die Franzosen nach dem Weltkrieg deutsche Kohlen nach Frankreich transportierten.

 

Am ersten Schultag traten alle Klassen in Reih und Glied vor der Schule an. Wir sangen das Deutschland- und das Horst-Wessel-Lied: „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. SA marschiert, mit ruhig festem Schritt ...”. Dabei wurde die Hakenkreuzflagge hochgezogen. Die ganze Zeit über mussten wir den rechten Arm hochhalten. Wer Glück hatte, konnte die Hand eine Weile auf der Schulter vom Vordermann ablegen, doch wehe, einer von den Lehrern sah das. Die standen alle oben auf der Schultreppe und streckten die Arme. 

 

"Es gab immer einen Petzer"

In der Klasse ging das Armeheben weiter. Wenn der Türsteher mit dem Ruf „Achtung!” meldete, dass der Lehrer kam, sprangen wir auf. Der Lehrer stellte sich ans Pult, riss den Arm hoch und rief: „Heil Hitler!” Wir hoben die Arme und grüßten im Chor: „ Heil Hitler, Herr Lehrer !” Der befahl uns: „Setzen!” Einmal brüllte Lehrer Köhler nach unserem Gruß los, dass wir alle uns duckten: „Wer hat da guten Morgen gerufen?” Der Schüler musste sich melden. Hätte er es nicht getan, wär´s auch rausgekommen, es gab immer einen Petzer.

 

1942

Fliegeralarm in Attendorn

Wenn es nachts Fliegeralarm gab, horchten meine Eltern am Fenster, ob die Walze noch lief. Gemeint war das Blechwalzwerk, wo mein Vater im Büro arbeitete. Wenn die Walze stillstand, wurde es Zeit, in den Keller zu gehen. Lief sie noch, schauten wir aus dem Dachfenster und erblickten im Norden über dem Ruhrgebiet die Strahlen von Scheinwerfern, die den Himmel nach Flugzeugen absuchten. Wir sahen Blitze von Bomben und Flakgranaten. Am nächsten Tag lasen wir im Wehrmachtsbericht die Namen der Städte, die von Terrorbombern angegriffen worden waren. Ich dachte an das Kriegsheftchen Bomben auf Coventry.

 

Vater brachte ein Brockhaus Konversationslexikon in vier Bänden nach Hause, sie hatten es auf dem Büro preiswert kaufen können. Das Lexikon war auf verschiedenen Papiersorten gedruckt, manche glänzend weiß, andere nur matt oder etwas bräunlich, als hätte man Muckefuck darauf ausgewischt. Die Bücher konnte ich nach allem fragen, was ich wissen wollte. Wenn ich nach einem Wort suchte, hielt ich beim Blättern immer wieder an und las, bis ich nicht mehr wusste, wonach ich hatte suchen wollen.

 

In einer Septembernacht ging es laut zu in unserer Wohnung. Außer der Stimme meiner Oma, die inzwischen bei uns wohnte, hörte ich eine fremde Frauenstimme. Sie rief nach heißem Wasser. Ich stand auf, um zu sehen, was los war, und wurde gleich wieder ins Bett geschickt.

 

Am nächsten Morgen zeigten sie mir meinen neugeborenen Bruder. Als jemand was vom Klapperstorch erzählte, wusste ich, dass es nicht stimmte. Ich sagte nichts und fragte nicht. Statt dessen schlug ich im Brockhaus nach, Stichwort Geburt, und folgte allen Hinweisen. Ich verstand nicht alles, aber es reichte, um zu erkennen, dass ich von den Erwachsenen die Wahrheit nie erfahren würde.

 

Es kam eine Nachricht, dass der Karl aus Dinkelsbühl in Russland gefallen war. „Weißt du noch?”, sagte Mutter, „ wie er immer beim Mensch-ärger-dich-nicht gemogelt hat?”

 

1943

„Wenn das die Polizei erfährt, kommt mein Vater ins Gefängnis”

Mein Freund Rolf und ich tauschten unsere Bücher aus, bis wir sie auswendig kannten. Als ich fragte, ob er nicht mal was Neues anzubieten hätte, sagte er, sein Vater hätte ein paar Bücher, aber die dürfte er nicht ausleihen: „Wenn das die Polizei erfährt, kommt mein Vater ins Gefängnis”. Ich fragte nicht weiter. (5)

 

Von einigen Büchern in unserem Bücherschrank hieß es: „Die sind noch nichts für dich!” Eines hieß Vier von der Infanterie. Ich las heimlich. Es war das Schrecklichste, was ich je über den Weltkrieg gelesen hatte. Die Soldaten in den Schützengräben hatten Hunger und starben im Dreck, und die Offiziere waren eher Feiglinge als heldenhafte Führer. (6)

 

Die Stimme von BBC London

Unser Radio blieb immer auf den gleichen Mittelwellensender eingestellt: Langenberg. Als ich einmal, allein zu Hause, den Apparat einschaltete, hörte ich ein Pausenzeichen, das ich noch nie gehört hatte: Drei kurze Paukenschläge, dann einen weiteren, danach meldete sich auf Deutsch die Stimme von BBC London. Sie sendeten Nachrichten.

 

Mir wurde klar, dass die Erwachsenen, die immer Radio hörten, wenn ich zu Bett geschickt worden war, vergessen hatten, den Sender zurückzustellen. Ich verriet nichts, sprach mit niemandem, aber hörte, so oft ich allein war, BBC. Wenn der Sender recht hatte, waren alle unsere Radio- und Zeitungsmeldungen gelogen.

 

1944

Fast jeden Tag meldete der Wehrmachtsbericht, dass „ein vorspringender Frontabschnitt zurückgenommen und die Front begradigt wurde”. Terrorangriffe gab es jetzt auch am hellen Tag. Die Zahl der Bomber, die abgeschossen worden waren, wurde immer kleiner. Deutsche U-Boote griffen zwar noch an, aber es gab keine Angaben mehr über versenkte Tonnage.

 

1945

Bomben auf Attendorn

Das bombardierte Attendorn im Jahr 1945
(Fotoquelle: Stadtarchiv Attendorn aus dem Nachlass von Theodor Frey sen.)

Im März wurde unsere Schule von der Wehrmacht beschlagnahmt, es gab keinen Unterricht mehr. Ein paar Tage später wurde die Stadt bombardiert. Ich war gerade mit meinem kleinen Bruder unterwegs, um Milch zu holen. Wir hörten das Heulen der Bomben und rannten in ein Haus. Als die Explosionen vorbei waren, gingen wir wieder auf die Straße und trafen unsere Mutter, die nach uns suchte. Auf dem Weg nach Hause schoben Männer eine Karre an uns vorbei, darauf lag tot der Lehrer Zeppenfeld. Sie sagten, er hätte keine Beine mehr.

 

Mein Freund Toni wurde tot auf der Straße gefunden, mit offenen Augen und ohne sichtbare Wunden. Der Luftdruck der Explosionen hatte ihm die Lungen zerrissen.

 

Nachts schliefen wir wegen der Fliegeralarme alle zusammen in einem Zimmer. Ich hörte die erste Granate, die über unser Haus flog: Ein kurzes Heulen, dann, etwas entfernt, ein Krachen, genau wie in der Wochenschau. Ich weckte die Eltern. Sie wollten mir nicht glauben, doch dann kam das nächste Geschoss angeheult und überzeugte sie.

 

„Unser Treppenhaus hat´n Volltreffer!”

Danach brachten wir drei Tage zuerst im Keller, später im Bunker hinter Knieps Haus zu. Nur zum Essenholen oder wenn einer mal dringend musste, wagten wir uns in eine Wohnung im Erdgeschoss. Als am zweiten Tag Huhns Walter aufs Klo musste, kam er zurück und meldete: „Unser Treppenhaus hat´n Volltreffer!”

 

Dann kamen die ersten Amerikaner, wir durften zurück in die Häuser. Weil immer noch Granaten über die Stadt hinweg flogen, schliefen wir erst mal eine Nacht im Keller. Am nächsten Morgen wagten wir uns hinaus. In den oberen Etagen gab es kein Wasser, also versammelten sich die Männer zum Rasieren in der Küche vom Erdgeschoss. Als plötzlich alle laut durcheinander schrien, rannte ich hinzu und sah, wie Knieps Hänns seinem Schwiegervater an den Kragen wollte. Der hatte behauptet, unser Führer besäße genug geheime Vergeltungswaffen, wir würden den Krieg doch noch gewinnen. Beide hatten Rasierschaum im Gesicht und brüllten wie die Stiere.

 

Ein paar Tage später war Hitler tot. Lehrer Köhler hatte sich ein Messer in die Brust gestoßen und Lehrer Senge hing am Strick im Gartenhaus. Schule gab´s nicht mehr.

 

Informationen, die ich erst nach dem Krieg bekam

(1) Mein Vater war wegen abfälliger Äußerungen über das dritte Reich von einem Mitarbeiter denunziert worden und bekam eine Vorladung zur Gestapo. Es wurde ihm das Ultimatum gestellt, entweder in die NSDAP einzutreten oder seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Mein Opa war Sozialdemokrat, mein Vater suchte seinen Rat. Im Dezember 2011 erfuhr ich, dass mein Opa zu den ersten Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft in Siegen gehörte und Anteile an der Zeitschrift Der Pazifist hatte.

 

(2) Mein Opa hatte sich die Malaria im Stellungskrieg in Frankreich zugezogen.

 

(3) Ein Freund meines Vaters war gerichtlich bestellter Liquidator einer jüdischen Firma, in der er zuvor Prokurist gewesen war. Er hatte den Auftrag, alle Liegenschaften des Firmenbesitzers zu verkaufen. Mein Vater kaufte am 15. Februar 1939 ein Grundstück für 1763,32 Reichsmark. Im November 1950 forderte das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Siegen die Rückerstattung des Grundstücks oder einen Neukauf. Meine Eltern entschieden sich für die Rückerstattung.

 

(4) Meine Mutter hatte eine Fehlgeburt mit Zwillingen. Sie hat es nicht mir, sondern meiner Verlobten erzählt.

 

(5) Rolfs Vater war Kommunist und überlebte den Krieg ohne Verhaftung, wahrscheinlich weil er kriegswichtiger Facharbeiter im Walzwerk war.

 

(6) Vier von der Infanterie ist ein Roman von Ernst Johannsen. 1930 wurde er erfolgreich verfilmt, war Vorläufer von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues. Buch und Film waren im Dritten Reich verboten.